Retrograde Buchstaben - wann ist es ein Fehler, wann künstlerische Freiheit?

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Ich habe in den letzten Tagen etwas recherchiert über Münzen mit Schreibfehlern ( Münzen mit Schreibfehlern ) und habe noch einige aus deutschen Kleinstaaten zwischen 1600-1871 gefunden, bei denen einzelne Buchstaben und Zahlen retrograd / spiegelverkehrt / horizontal gespiegelt / vertikal gespiegelt sind.

Ich habe ein älteren Satz von Gerhard Schön dazu bezüglich einer Münze aus Altdeutschland gefunden:

"Das retrograde N muss aber kein Fehler sein, manchmal wurden aus Kreativität oder als besonderes Kennzeichen alle im Münzbild vorkommenden N seitenverkehrt wiedergegeben"

Nun suche ich aber Münzen mit "Schreibfehlern" und habe Probleme zu unterscheiden, wann so etwas ein Versehen war und wann es ein Stilmittel ist.

Einen Tipp hat mir Herr Schön freundlicherweise schon gegeben, nämlich das man bei einer gedrehten "1" von einem Fehler ausgehen kann (vielen Dank!).
  • Meist kommt es bei den Buchstaben "N", "S" und der Zahl "1" vor. Betrifft die Wahl als Stilmittel bei Buchstaben nur das "N"? Kann man bei anderen Buchstaben immer von einem Fehler ausgehen?
  • Kann man vielleicht über das Prägedatum Aussagen treffen, etwa "ab dem Jahr X wurde dieses Stilmittel nichtmehr eingesetzt".
  • Wenn es die gleiche Münze im gleichen Jahr mit und ohne gespiegeltem Zeichen gibt, kann man dann von einem Fehler ausgehen? Oder muss damit gerechnet werden, dass vieleicht verschiedene Stempelschneider im gleichen Jahr bewusst verschiedene Versionen gemacht haben?
  • Gibt es sonst Daumenregeln?
Vielen Dank für eure Tipps!
 
... zu unterscheiden, wann so etwas ein Versehen war und wann es ein Stilmittel ist.
Das kann man meiner Meinung nur herausbekommen, wenn man den Künstler/Stempelschneider persönlich danach fragt. Was bei älteren Stücken lieder nicht mehr möglich ist.
 
Hallo,

in einem anderen Forum hatte ich genauso einen Fall schon einmal beschrieben.

Insgesamt gibt es drei (mir) bekannte Umschriftenversionen dieser Münze, welche alle nur 1608 geprägt wurden.

Hier habe ich auch noch eine Münze mit retrograder Schrift, ein 1/4 Gulden zu 6 1/2 Albus von Friedrich IV. von der Pfalz-Kurlinie, geprägt in Mannheim. Mit dem "S" hatte der Stempelschneider anscheinend so seine Probleme. Und das auf der Vor- und Rückseite.

Ein weiteres Stück mit den spiegelverkehrten S kam mir bislang noch nicht unter. Daher gehe ich tatsächlich von einem Fehler des Eisenschneiders aus. Möglicherweise fand die Münze so keinen Gefallen und es wurden zeitnah neue Stempel geschnitten.

Anbei ein typisches, "normales" Stück mit richtig geschnittenen S.

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Wann es ein "Fehler" und wann es gewollt, Künstlerische Freiheit oder gar im Kontext mit Abkürzungen zu sehen ist oder es in der jeweiligen Eppoche sehr oft vorkam, das ist in manchen Fällen wohl nie eindeutig zu beantworten bzw. im letzten Fall bedarf es dafür umfangreicher Marteialsichtungen und Auswertungen. Das letzte, angehangene Stück ist von 1608. Dieses stand handwerklich sicherlich in der Tradition der Pfennigprägungen des angehenden Hochmittelalters, beispielsweise dem ca. 415 bis 420 Jahre früher geschlagenen Pfennig. Und wenn um 990 ein Buchstabe, wie beispielsweise das "S" auf den Bauch liegt oder sich der Münzmeister mal ELLIN und dann wieder ELLN schreibt - ich glaube, die waren schon glücklich und froh, wenn es überhaupt jemanden gab, der Buchstaben in eine halbwegs sinnvolle Reihenfolge setzen konnte. Die Herrscher konnten teils überhaupt nicht lesen - so what? Interessant ist es sicherlich. Für Sammler wertsteigernd oder wertmindernd kann es dann werden, wenn der Markt das so will.
 

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Vielen Dank euch!
Ich verstehe, das sich das so wirklich abschließend nicht beantworten lassen wird.

Ich hatte nur gehofft, es hätte vielleicht ein paar Regeln gegeben, sowas wie "Retrograde Buchstaben werden immer am linken oder rechten Rand gespiegelt, nie am oberen oder unteren" oder "wenn, dann hat der Künstler alle N's verdreht oder gar keines, aber nicht 1 von 3" oder "es werden nur bestimmte Buchstaben gespiegelt(N, ...), andere nie(J, ...)".

Vielleicht können wir ja spekulieren, ab wann Retrograde Buchstaben nicht mehr benutzt wurden? Ich denke mal ab 1900 können wir annehmen, dass Münzendesigns nicht mehr mit gespiegelten Buchstaben oder gedrehten Buchstaben gemacht worden sind, wenn man nicht grade auf ein historisches Design anspielt, oder? Entsprechend können wir halbwegs sicher sagen, dass 50 Öre Norwegen 2011 mit gespiegelten "1" ein Fehler ist. Vielleicht kann man dieses von mir willkührlich genannte Datum ja noch etwas nach vorne verschieben. 1850? 1800?

Ansonsten haben wir noch die Daumenregel, die mir Herr Schön freundlicherweise genannt hat:
"Eine spiegelverkehrte 1 allerdings deutet auf ein Versehen hin."
-> gedrehte und gespiegelte Buchstaben können künstlerische Freiheit sein, Zahlen eher nicht.
 
Hallo,

wahrscheinlich ist es unmöglich, das Motiv des Eisenschneiders zu ergründen.
Da er aber im Auftrag des Münzmeisters handelte, war das Risiko, daß dieser die Eisen nicht abgenommen hat, wahrscheinlich auch gegeben?
Er wollte ja sicherlich akkurat geschnittene Stempel, die auch der Münzherr nicht zu beanstanden hatte, sollte man denken. Ob Münzherr und Münzmeister nun unbedingt Sinn für künstlerische Freiheit hatten?
Ich hätte ihm die Eisen um die Ohren geschlagen.

Ich persönlich vermute, daß es wirklich daran lag, daß damals viele Leute nicht lesen und schreiben konnten.

Anbei ein Beispielbild einer 24 Kipper-Kreuzermünze von 1622.
Hier wurde das "N" offenbar erst "richtig" vorgestochen, dann retrograd "verbessert".
Das "FE" für Ferdinand hat auch nicht geklappt.
Ich glaube nicht, daß der Eisenschneider mit Absicht den Kaiser so karikieren wollte.

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