Lauter alte Steine - Anatolien 2024

Samstag, 17.08.2024 - Auf nach Armenien!

Nachdem das Buffet im gestrigen Hotel keine Wünsche offen ließ, fällt heute das Frühstück etwas spartanischer aus. Anschließend geht's mit dem Taxi zum Flughafen, wo ich mir bei Avis ein Auto für den Tag hole.

Zuerst schaue ich mir ein wenig die Stadt an.
Kars war nicht immer eine türkische Stadt - und das sieht man auch. Vor 1.000 Jahren war es kurzzeitig Hauptstadt eines armenischen Königreiches und 1919-20 Teil der ersten armenischen Republik. Erhalten ist die armenische Kathedrale, die natürlich mittlerweile zur Moschee umgewandelt wurde. Ein Junge gibt mir eine kleine Führung und zeigt die Reste der ihrer Ikonen beraubten Ikonostase.

Zwischendurch fielen noch die Mongolen und Osmanen über Kars her und im 19. Jh. belagerten schließlich die Russen die Stadt. Im Russisch-Osmanischen Krieg von 1877/78 erobern sie die Provinz Kars schließlich ganz. Die russische Zeit erkennt man auch noch im Stadtbild. Der Fethiye Moschee beispielsweise sieht man die russische Kirche noch gut an. Auch ein Jagdhaus für Zar Alexander wurde gebaut (Katerina Sarayı). Er hat neben der Tierjagd hier wohl auch seiner Mätresse nachgestellt.

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Aber nur für die Stadt bräuchte ich kein Auto. Deshalb geht es jetzt immer weiter nach Osten, bis die Straße im Dörfchen Ani endet. Den Ort habe ich schon länger auf meiner Bucketlist. Ani existiert seit mindestens dem 5. Jh. und wurde im 10. Jh. armenische Hauptstadt. Mit über 100.000 Einwohnern war die "Stadt der 1001 Kirchen" auch nicht ganz unbedeutend. Die einstige Größe lässt sich heute aber nur noch erahnen. Eroberungen durch Seldschuken, Georgier, Mongolen und schließlich Osmanen haben ihre ebenso zugesetzt, wie mehrere starke Erdbeben (zuletzt 1988).

Es stehen noch die nördliche Stadtmauer, ein kaputt restaurierter Palast, die Moschee und die Reste einiger Kirchen. Die Kathedrale von Ani wird gerade restauriert und die Erlöserkirche steht nur noch zur Hälfte. Sie wurde gebaut, um einen Splitter des echten Kreuzes aufzubewahren.
Beeindruckend ist auch die Kirche Sankt Georg von Tigran Honents mit ihren erhaltenen Fresken. Allerdings ist sie wahrscheinlich eher georgisch als armenisch.

Dass Ani eine armenische Stadt ist, wird von der Türkei konsequent totgeschwiegen. Man spricht nur vom christlichen Erbe in der Türkei. Außerdem "zieren" überproportionale türkische Flaggen einige Gemäuer - groß genug, damit man sie auch ja 300m weiter östlich in Armenien gut erkennen kann.

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Da noch ausreichend Tag in übrig ist, mache ich noch einen Abstecher Richtung Ararat. Schon der zweite Ort auf dieser Reise, wo die Arche Noah gestrandet sein soll.

Im Städtchen Iğdır gibt es außerdem ein Denkmal, dass dem angeblichen Völkermord gedenkt, den die armenische Minderheit an den Osmanen begangen haben soll. Die Geschichtsklitterung im dazugehörigen Museum spare ich mir.
Aber nicht alle Türken haben so ein verschobenes nationalistisches Weltbild. Als Reaktion auf die Errichtung dieses Denkmals hat der Künstler Mehmet Aksoy in Kars das "Denkmal der Menschlichkeit" errichtet, in dem sich Türken und Armenier die Hände reichen. Allerdings hat Erdoğan 2011 den Abriss "dieser Monstrosität" angeordnet.

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Abends gebe ich das Auto dann wieder in Kars ab und erkunde das russische Lokalkolorit. Puschkin ist wie Goethe... der war schon fast überall - so auch hier in Kars. Also kehre ich im ihm gewidmeten Lokal ein. Es gibt Puschkin Çorba und eine Lammpfanne. Das Dessert auf der Terrasse des Raskolnikov war dann doch etwas frostig. Ich bin so niedrige Temperaturen (um die 12°C) gar nicht mehr gewohnt.

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Sonntag, 18.08.2024 - Doğu Ekspresi

Gestern habe ich mich noch mit Verpflegung eingedeckt, denn heute wartet wieder der Doğu Express auf mich - diesmal fahre ich allerdings die komplette Strecke bis Ankara. Laut Fahrplan knapp 26 Stunden. Na mal schauen...
Diesmal gibt es keinen Schlafwagen. Diese Waggons sind dem sündhaft teuren Touristik Doğu Express vorbehalten. Stattdessen ist der Zug mit einem Liegewagen ausgestattet - auch akzeptabel. Die Fahrt ist angenehm... kurvig, bergig und immer was zu gucken. Ich passiere u.a. den Zusammenfluss von Karasu und Tuzla, die sich zum Euphrat vereinigen.

Ab Erzincan muss ich mir mein Abteil teilen, aber das passt schon. Mit dem jüngeren unterhalte ich mich zwischendurch in leidlichem Englisch - ein angehender Grundschullehrer. Mittlerweile wird die Landschaft immer spannender. Zum Glück ist es noch nicht finster, es wäre schade gewesen, die Schluchten zu verpassen.

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Montag, 19.08.2024 - Ankara Reprise

Die Nacht war ganz angenehm. Das Ratatata der Gleise hat was einschläferndes. Allerdings hat die Bahn bereits knapp drei Stunden Verspätung. Ein wenig holen wir bis Ankara zwar noch auf, doch aus der Ankunft 09:39 wird nichts. Jetzt ist es fast um 12. Da muss ich meinen Heimflug wohl oder übel umbuchen.

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Die Verspätung bringt es jetzt zumindest mit sich, dass ich ausreichend Zeit habe, doch noch einmal zum Anıtkabir zu gehen.

Nachdem ich nun schon so viele Orte auf dem Weg der Türkei zur Republik gesehen habe kulminiert hier nun der türkische Nationalstolz.
Mustafa Kemal Pascha, bzw. ab 1934 mit dem Ehrentitel Atatürk, Vater der Türken, hat hier ein gewaltiges Grabmonument erhalten.
Nachdem der Reformer 1938 verstorben ist, wurde er vorerst im ethnographischen Museum in Ankara beigesetzt, bevor er 1953 in das Mausoleum umgebettet wurde.

Der neoklassizistische Bau erinnert bewusst eher an einen antiken Tempel als dass er an osmanische Bauformen anknüpft, da auch Atatürk mit der jüngeren Geschichte des untergegangenen Reiches gebrochen hatte. Er hat Sultanat und Kalifat abgeschafft, Mann und Frau gleich gestellt, konsequent den Laizismus durchgesetzt, die lateinische Schrift und den gregorianischen Kalender eingeführt.
Vielmehr hat man mit dem Monument versucht, an Vorosmanische Zivilisationen anzuknüpfen, nutzt zum Beispiel hethitische Stilelemente.

Früher lagen auch noch mehre Opfer des Militärputsches von 1960 hier. Deren Mietvertrag wurde aber gekündigt, als der Staatsfriedhof eröffnet wurde. Nur der zweite Präsident und Weggefährte Atatürks, İsmet İnönü, durfte bleiben.

Die ganze Anlage ist ein ziemlicher Publikumsmagnet. Unter der Marmorhalle gibt es auch noch ein Atatürkmuseum, aber so viel Personenkult vertrage ich heute nicht mehr. Dafür bekomme ich gerade noch rechtzeitig den Wachwechsel mit. Holla, können die Türken brüllen...

Sicher sind die Wachsoldaten auch froh, heute nicht in ihren Glaskästen stehen zu müssen. Es sind wieder 37°C.

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Danach geht es zum 2. Parlament. Vor zwei Wochen hab ich nur mal von außen geguckt, nun gehe ich doch noch einmal rein. Es wirkt trotz des Prunkes doch recht klein und beschaulich. Die Abgeordnetenplätze sehen eher wie Schulbänke aus, über die Atatürk von seiner Theaterloge aus wacht.

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Noch ein letztes Abendessen in der Türkei und dann gehe ich zum Bahnhof zurück, hole das Gepäck aus dem Schließfach und warte auf den Flughafenshuttle...
Und vielleicht sollte ich anfangen Lotto zu spielen. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, im Abstand von zwei Wochen an der gleichen Stelle das gleiche Auto vorbeifahren zu sehen? Schöne Grüße an den blauen Käfer...

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Dienstag, 20.08.2024 - ESB-IST-LEJ

Nun heißt es erst einmal warten. Leider wird es durch die Umbuchung kein Direktflug. In Istanbul muss ich umsteigen. Dafür gibt es über dem Marmarameer einen schönen Blick auf den Vollmond. Und weil ich mir die Nacht um die Ohren schlagen muss, gönne ich mir zumindest ein bisschen mehr Beinfreiheit, was gutes zu Essen und eine Dusche in der Lounge...

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In Leipzig lande ich pünktlich, Gepäck kommt auch fix und die Bahn ist auch postwendend da - das bin ich gar nicht mehr gewohnt...
Mittag halb eins stehe ich wieder auf meiner Schwelle - zum Glück, denn eine Stunde später erwarte ich Handwerker...





Alles in allem war es wieder eine tolle Reise. So viele Eindrücke, Erlebnisse und nette Menschen! Und danke, dass auch ihr euch wieder die Zeit genommen habt, mit zu reisen.
Die nächsten Pläne stehen schon... :cool:
 
Nochmals meinen allerherzlichsten Dank an @kaamos für diesen wie immer sehr informativen Reisebericht.

Die Regionen, die heute als Türkei und Nachbarländer bekannt sind, waren einst die Wiege bedeutender Zivilisationen, wie wir lesen durften. Vor Tausenden von Jahren, als Europa noch von dichten Wäldern und verstreuten Gemeinschaften geprägt war, blühten in Anatolien und im Nahen Osten Kulturen auf, die die Grundlagen moderner Zivilisation legten.

Hier, im Herzen Anatoliens, entstanden Städte mit komplexen Gesellschaftsstrukturen, beeindruckender Architektur und hochentwickelten Technologien. Die Hethiter zum Beispiel beherrschten die Eisenverarbeitung in einem Ausmaß, das Europa erst viele Jahrhunderte später erreichte. Ihre Städte, ihre Handelsnetzwerke und ihre kulturellen Errungenschaften waren leuchtende Beispiele für menschliche Kreativität und Fortschritt.

Während Europa noch in kleineren, oft isolierten Gemeinschaften lebte, verbanden die Menschen in diesen Regionen bereits die Welten Asiens und Europas durch ihre Handelswege. Sie entwickelten fortgeschrittene landwirtschaftliche Techniken, bauten monumentale Tempel und Paläste, und sie schufen komplexe religiöse Systeme, die uns noch heute inspirieren. Die Bilder und Berichte von @kaamos zeugen davon.

Diese Kulturen waren weit fortgeschrittener, als es die zeitgleichen Entwicklungen in Mitteleuropa vermuten lassen würden. Sie waren einflussreich, innovativ und hinterließen ein Erbe, das die gesamte Menschheit bis heute prägt.

In Zeiten, in denen leider viele politisch fehlgeleitete und meistens uninformierte Menschen auf "die Ausländer" abwertend bis aggressiv herabblicken und meinen, uns in unserem Land vor dieser empfundenen Bedrohung schützen zu müssen, verkennen diese die beeindruckende Geschichte, die in diesen Ländern geschrieben wurde. Sie verkennen die Errungenschaften der Menschen, die vor Tausenden von Jahren Grundlagen legten, auf denen auch unsere moderne Welt aufbaut.

Die Geschichte zeigt uns, dass jede Region und jede Kultur ihre Zeit der Blüte und des Beitrags zur menschlichen Zivilisation hatte. Anstatt uns von Vorurteilen leiten zu lassen, sollten wir uns daran erinnern, dass wir alle Teil einer langen und vielfältigen Menschheitsgeschichte sind.

Lasst uns mit Respekt und Bewunderung auf diese alten Kulturen blicken und erkennen, dass wahre Größe und Weisheit nicht durch Vorurteile, sondern durch Verständnis und Offenheit entstehen.

Gut, dass es Menschen wie @kaamos gibt, die durch ihre Reiseberichte z.B. hier in diesem Forum uns anderen diese Informationen und Erkenntnisse näherbringen. Ich bin sicher, dass der Lehrerkollege @kaamos auch in seinem beruflichen Wirken als Lehrer und Multiplikator dieses Wissens viele seiner Schülerinnen und Schüler mit seinen Lebenserfahrungen auf den richtigen, menschlichen Weg bringen wird.

Nochmals DANKE dafür!!!
 
Dank an kaamos für diesen wieder sehr interessanten, informativen und unterhaltsamen Reisebericht. :cool:

Ich hab noch zwei Fragen.
Wie hat sich die hohe Inflation in der Türkei auf der Reise (wenn überhaupt) bemerkbar gemacht?
Wie sah es mit Münzen und Bargeld beim Bezahlen aus? In welchem Zustand waren Münzen und Scheine und was gab es so im Umlauf?
 
@kaamos, vielen Dank dafür das wir mit Dir mitreisen durften. Deine Erlebnisse und Eindrücke sind faszinierend und beeindruckend. Deine Reisen sind ganz nach meinem Geschmack, weil sie Kultur, Geschichte und das Flair der Reiseorte sehr gut wiedergeben. Wie lange bereitest Du Dich auf Deine Reisen vor?
 
Danke @numisfreund, deine Worte bringen es so schön auf den Punkt, besser könnte ich es auch nicht sagen. Insbesondere, da ich als "westlicher" Tourist und Gast in diesen Ländern immer so unendlich viel mehr Offenheit, Herzlichkeit und Gastfreundschaft erfahre, als es mit großer Sicherheit den meisten nah- und fernöstlichen Reisenden bei uns in Europa vergönnt sein würde.

@redlock
Wie hat sich die hohe Inflation in der Türkei auf der Reise (wenn überhaupt) bemerkbar gemacht?
Wie sah es mit Münzen und Bargeld beim Bezahlen aus? In welchem Zustand waren Münzen und Scheine und was gab es so im Umlauf?
Ich kann jetzt nicht sagen, dass die Türkei ein besonders billiges Reiseland war. 10-20€ muss ich schon für das Abendessen einplanen. Allerdings habe ich mir auch in der Regel ein hübsches Restaurant gesucht. Kebab am Straßenstand wäre sicherlich günstiger gewesen und mit Sicherheit auch gut. Allerdings war ich natürlich in Gegenden, wo der westliche Massentourismus eher nicht stattfindet. Ich denke an der Mittelmeerküste und in Istanbul muss man mit ganz anderen Preisen rechnen.
Ein frisches Brot und 1l Wasser gibts für 1,20€. Einen Cay für 0,7-1,8€, einen türkischen Kaffee auch in dem Rahmen.

Zahlen ging zu 70% auch im tiefen Osten mit Karte. Allerdings mit echter Kreditkarte. Meine Debitkarte ist gescheitert (am Automaten hat sie aber funktioniert). Bargeld gibts fast ausschließlich als Schein. Ich habe nur drei mal Münzwechselgeld bekommen (an der Kasse eines größeren Supermarktes).
Es gab 1 TL (die alten, wie auch die neue leichtere Variante), sowie 5 TL (die Version zu 100 Jahre Republik)

@Onkel Sam
Wie lange bereitest Du Dich auf Deine Reisen vor?
Mhh... gute Frage :oops:
Das funktioniert so nach dem Motto: da kommt ein Geistesblitz "da möchte ich hin" - und dann ist das wie ein Flash, dass der Rahmen mit den einschlägigen Flugsuchmaschinen gesteckt wird (durch die Ferien bin ich ja eh zeitlich immer etwas eingeschränkt), ein Blick auf Google Maps geworfen und eine potenzielle Strecke abgesteckt wird und dann entlang der Route die Suche verfeinert wird.
Für die Tour jetzt habe ich vielleicht maximal anderthalb bis zwei Wochen gesessen. Je öfter man das macht, umso schneller weiß man natürlich wie und wo man suchen muss.
 
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