Die Jugend von heute ...

numisfreund

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... ist durchaus verantwortungsbewusster und im positiven Sinne kritischer als viele denken.

Als ehemaliger Lehrer und fünffacher Großvater ist es mir ein Bedürfnis, diesen Brief an seinen Lehrer, den ich heute von einem mir sehr nahestehenden 17-jährigen Jugendlichen (Gymnasium Klasse 11) per Email zur Kenntnisnahme erhielt, mit euch zu teilen:

Sehr geehrter Herr xxx,

zuerst einmal wünsche ich Ihnen eine weiterhin erholsame Elternzeit, die Sie in vollen Zügen genießen können. Daher habe ich vollstes Verständnis, wenn sie diese Mail erst lesen, wenn Sie (hoffentlich bald) wieder zurück in der Schule sind.

Es geht um ein persönliches Anliegen, nämlich die Thematisierung der Bundestagswahlen vom 23.2.2025 im Unterricht.

In einer Zeit, in der die extremen Kräfte in unserer Gesellschaft immer stärker werden und ihr Populismus gerade durch Social Media etc. immer mehr Publikum erreicht, ist eines wichtiger denn je zuvor: Politische Bildung. Dennoch -möglicherweise teilweise, aber sicherlich nicht vollständig, wegen unseres zweiwöchigen Praktikums- haben wir nicht in einer einzigen Unterrichtsstunde in irgendeinem Fach über die zu dem Zeitpunkt bevorstehende Wahl gesprochen. Das ist, meiner Meinung nach, ein Fiasco der größten Art und veranschaulicht sehr gut die Grenzen unseres Schulsystems, denn, auch wenn der Großteil unserer Stufe noch nicht wahlberechtigt ist, müssen politische Inhalte trotzdem nähergebracht werden.

Die Alternative ist die Folgende: Wir als Schüler reden in der Schule mit jedem/r Lehrer/in fächerspezifisch über die gleichen Inhalte, über welche diese/r Lehrer/in seit Beginn ihrer Amtszeit redet und beziehen unsere komplette politische Bildung außerschulisch: Von reißerischen Parolen auf Wahlplakaten über hetzerische Videos auf Social Media. Aktuelle Themen werden schulisch nicht behandelt, wir liegen selbst alleinig in der Verantwortung, uns zu bilden.

Ist das die Art Bildung, mit der wir als Schüler später in das Leben als Erwachsener geschickt werden sollen?

Ich schreibe diese E-Mail nicht nur an Sie, weil Sie uns in Sozialwissenschaften unterrichten, sondern auch, weil Sie einer der wenigen Lehrer/innen sind, die auf das tagesaktuelle Geschehen eingehen und versuchen, ihre Verantwortung als Staatsdiener/in gegenüber unserer Demokratie wahrzunehmen.

Auch, wenn ich Frau xxx's
(Anmerkung numisfreund: eine Referendarin) Ansatz, zumindest einmal nachzufragen, ob es Gesprächsbedarf zur Bundestagswahl gibt, schon begrüße, versuche ich im Folgenden, Ihnen durch ein relativ plumpes Beispiel zu veranschaulichen, wieso ich ihn dennoch kritisiere: Wenn Sie in einer siebten Klasse Deutsch unterrichten, fragen Sie auch nicht, ob jemand Gesprächsbedarf zu Gedichten hat, und, wenn keiner etwas sagt, gehen alle wieder nach Hause. Nein. Sie geben das Thema vor, und die Klasse hat die Aufgabe, sich mit diesem zu beschäftigen. Wieso wird das also nicht mit einem der wichtigsten Themen der letzten Monate gemacht?

Ich kann mir durchaus vorstellen, dass es als Lehrer leichter ist, solche Themen zu vermeiden, besonders weil vermutlich die Mehrheit der Schüler/innen nicht gerade für Politik brennt und die Gesprächsbereitschaft nicht immer bei jedem gegeben ist. Aber ist es nicht dennoch möglich, Aufgaben, beispielsweise über den Vergleich der Wahlprogramme zu von den Schülern ausgesuchten Themen, anzuordnen?

Und ja, ich weiß, dass Frau xxx bald ihre Prüfung hat und deshalb gerne ihren geplanten Unterricht gibt und ich verstehe sie da voll und ganz, weshalb ich die Frage nach der größeren Relevanz gar nicht stellen werde. Aber dennoch bitte ich Sie darum, zumindest nach Frau xxx's Prüfung nochmal auf die Wahlen zurückzukommen, denn, die in der Politik häufig gesagte Floskel: „Nach der Wahl ist vor der Wahl" trifft auch hier zu. Politische Bildung bleibt wichtig, und sie kam, wenn es nach mir geht, lange genug viel zu kurz.

Vielen Dank, dass Sie diese Mail gelesen haben, ich hoffe auf offene Ohren. Wenn ich vielleicht sogar eine rege Diskussion im Lehrerkollegium angestoßen haben sollte, umso besser.
Aber jetzt genießen Sie erstmal weiterhin ihre Elternzeit.

Mit freundlichen (und definitiv vom schulischen Arbeitsgerät und nicht vom Handy verschickten) Grüßen

xxx



Ich bin baff und stolz zugleich!!!
 
Alles, toll, gut und schön, aber wollten wir die Politik nicht hier aus dem Forum rauslassen? Jeder weiß, wo das immer endet...
Ja und nein, hier geht es ja nicht um "Politik" sondern um die Information darüber im Unterricht. Und gerade hier ist es natürlich als "Diener des Staates" eventuell schwierig das gebotene Maß an Neutralität zu wahren. Hierbei kann es schnell zu Konflikten kommen und es muß wohlüberlegt sein was und welche Themen wie und in welcher Art behandelt werden.
 
Vor ewigen Jahrzehnten meiner Schulzeit wurde mangels politischem Interesse der Mehrzahl der Schüler im Klassenverband von unserem Gemeinschaftskundelehrer einmal der Satz gesagt >wer sich nicht um die Politik kümmert um den kümmert sich die Politik <
Diesen prägnanten Satz habe ich bis heute nicht vergessen
 
Vor vielen Jahren vor vielen, hatten wir auch Politikunterricht der nannte sich Staatsburgerkunde. Ich finde das sollte in der Schule nicht stattfinden, weil ich bezweifle das dies völlig Wertfrei stattfindet.

Den Brief an sich finde ich schon sehr bemerkenswert.
 
Vor vielen Jahren vor vielen, hatten wir auch Politikunterricht der nannte sich Staatsburgerkunde. Ich finde das sollte in der Schule nicht stattfinden, weil ich bezweifle das dies völlig Wertfrei stattfindet.

Den Brief an sich finde ich schon sehr bemerkenswert.
Hier durfte ich zur EOS gehen:
Wittig, Günter - 1967 bis 1991 - Staatsbürgerkunde
Der furchtbarste Unterricht, an den ich mich erinnern kann. "Das Manifest der Kommunistischen Partei" war Pflichtbesitz. Phrasen wie "Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit." etc. mussten in Klausuren 1:1 bis auf das letzte Komma wiedergegeben werden, sonst gab es Abwertungen. Als die russischen Bergleute im Ural 1989 die Arbeit niederlegten, gab es in der Klasse eine hitzige Diskussion, während der uns Herr Wittig erklärte, im Sozialismus gäbe es keinen Streik. Meine Frage "Wenn es im Sozialismus keinen Streik gibt, wie nennt man diese Arbeitsniederlegung denn dann...???" hätte mich sicher die Versetzung gekostet, gottseidank kam dann die "Wende". Mit ihr aber auch Unsicherheiten meim Lehrkörper, die Übernahme des Arbeitsplatzes nicht durch zu gute Benotung zu gefährden. In der Abiturprüfung Deutsch bekam ich als "Ausdruck"-Dauer-1er Schüler glattweg eine 3.
 
Bei Politik/aktuellem Geschehen kommt es meiner Erfahrung nach auf einzelne Lehrer an. Bei mir gab es 2-3 die auf solche Themen eingagangen sind, bei meinem Sohn gibt es auch ein-zwei. Und da ist es Fachunabhängig - Wahlomat wurde in English durchgenommen, das Ergebnis der Wahl in Latein 😅
p.s. sehr guter Brief, wäre mir mit 17 so nicht gelungen :respekt:
 
Ja und nein, hier geht es ja nicht um "Politik" sondern um die Information darüber im Unterricht. Und gerade hier ist es natürlich als "Diener des Staates" eventuell schwierig das gebotene Maß an Neutralität zu wahren. Hierbei kann es schnell zu Konflikten kommen und es muß wohlüberlegt sein was und welche Themen wie und in welcher Art behandelt werden.
Möglicherweise bestehen allerdings über „das gebotene Maß an Neutralität“ bzw. diese „Neutralität“ oder gar „Wertfreiheit(?!)“ Unklarheiten?
Neulich kam ich an einem Büro/Schaufenster der GEW vorbei und dort war sinngemäß diese Darstellung veröffentlicht:

 
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